Ein neues Projekt, das diese Woche in Dundee gestartet wurde, sammelt vergessene Geschichten, Fotografien und persönliche Gegenstände aus den schottischen Walfanggemeinden. Das Ziel ist nicht die Verherrlichung der Industrie, sondern die Bewahrung der Geschichte der Menschen dahinter.
Sie kamen von den Shetlandinseln, aus Leith oder den kleinen Fischerhäfen an der Nordostküste Schottlands. Die meisten von ihnen waren sehr jung, manchmal gerade erst dem Teenageralter entwachsen. Sie reisten fast 8’000 Kilometer nach Südgeorgien, in das Herz des damaligen globalen Walfang-Epizentrums, angezogen von der Aussicht auf Abenteuer, Lohn und einen Ausweg aus der Armut.
In den letzten zwei Jahren haben der South Georgia Heritage Trust und das South Georgia Museum eng mit ehemaligen Walfanggemeinden in Schottland zusammengearbeitet, um die Whalers‘ Memory Bank ins Leben zu rufen. Das Projekt wurde durch die Unterstützung der Spieler der National Lottery und die Finanzierung durch den National Lottery Heritage Fund ermöglicht.
Ab heute Freitag werden ihre Stimmen und Erinnerungen in der Whalers‘ Memory Bank, einem neuen digitalen Archiv des South Georgia Museums, online zu hören sein. Das Projekt wird als „lebende digitale Zeitkapsel“ beschrieben und sammelt Fotos, mündliche Zeugnisse und persönliche Gegenstände, die von ehemaligen Walfängern, ihren Familien und Gemeinden zur Verfügung gestellt wurden, um die soziale Realität eines Lebens im Schatten der Harpune zu bewahren.
„Es geht nicht darum, die Industrie zu feiern oder den Walfang zu unterstützen“, erklärt Jayne Pierce, Projektleiterin und Kuratorin des South Georgia Museums. „Was hier erzählt wird, ist die Geschichte der Männer, die in den Walfang gingen: ihre Prüfungen, ihre Kameradschaft und die Gründe für ihr Engagement. Eine Geschichte, die bislang nur selten erforscht wurde.“
Eine Volksgeschichte des Walfangs
Die industrielle Jagd in der südlichen Hemisphäre begann 1904 und dauerte bis in die Mitte der 1960er Jahre. Das Vereinigte Königreich und insbesondere Schottland spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Unternehmen waren britisch, doch die Arbeitskräfte waren oft schottische Arbeiter. Jahrzehntelang wurde der Walfang als „Arbeit wie jede andere“ angesehen, obwohl er schwierig und extrem war.
Die Whalers‘ Memory Bank verlagert den Blick von den Statistiken und Gewinnen auf das tägliche Leben der Menschen, die auf der Insel arbeiteten. Durch die gesammelten Objekte und mündlichen Aussagen bietet das Archiv einen seltenen Einblick in ein hartes Leben, das von Isolation, körperlicher Arbeit, aber auch von unerwarteter Kreativität geprägt war.
„Wir haben eine Menge Fotos gesammelt“, sagt Pierce. „Die Bilder der Industrieunternehmen zeigen die Schiffe und Anlagen, aber die Bilder, die von den ehemaligen Walfängern zur Verfügung gestellt wurden, erzählen etwas anderes. Sie zeigen das Leben hinter den Kulissen“.
Seit dem Start des Projekts im Juni 2023 hat das South Georgia Museum mehrere Workshops mit ehemaligen Walfängern organisiert, die ihre Geschichten, ihr Wissen und ihre persönlichen Sammlungen mit ihnen geteilt haben. Das Museum arbeitete auch mit anderen schottischen Institutionen zusammen und erhielt mehrere hundert Objekte, die nun in die Memory Bank aufgenommen wurden.
Die Plattform bietet einen wertvollen Einblick in das Leben der Walfänger in Südgeorgien, 8’000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Die Walfangstationen und Fabrikschiffe funktionierten wie kleine Städte, mit einer Vielzahl von Arbeitsplätzen: Walverarbeitung an Land und auf See, Funker, Küchenhilfen, Schmiede oder Hubschrauberpiloten, die Wale aufspüren sollten. Diese Erfahrungen werden anhand von Filmen, mündlichen Berichten, Fotografien und anderen Dokumenten erzählt.
Besucher können außerdem einen virtuellen 3D-Rundgang durch eine Walfangstation auf Südgeorgien unternehmen, wo auf der gesamten Insel nicht weniger als 176.000 Wale verarbeitet wurden.
Zu den bewegendsten Objekten gehören geschnitzte Walzähne in Form von Pinguinen, handgestrickte Kleidung und selbstgebastelte Werkzeuge für den täglichen Bedarf. Lange Zeit auf Dachböden vergessen, haben diese Objekte erst vor kurzem ihren diskreten historischen Wert enthüllt. Sie bieten einen intimen Einblick in das, was für diese Männer wichtig war, und zeigen nicht nur die Härte ihres Berufs, sondern auch ihre Menschlichkeit.
Letzte Stimmen aus dem Eis
Obwohl die Memory Bank auch institutionelle Archive umfasst, sind es die Aussagen der ehemaligen Walfänger, die den Kern des Projekts bilden. Es wird angenommen, dass heute nur noch etwa 30 Veteranen am Leben sind, die meisten von ihnen über 90 Jahre alt. Das Team arbeitete eng mit den Walfangverbänden auf den Shetlandinseln und in Edinburgh zusammen, um diese Geschichten zu erfassen.
Die Befragung der ehemaligen Walfänger war für Jayne Pierce und ihre Kollegin Helen Balfour eine bewegende und zutiefst befriedigende Erfahrung. „Einige von ihnen hatten seit Jahrzehnten nicht mehr darüber gesprochen. Mit ihnen zusammenzusitzen und ihre Erinnerungen in ihren eigenen Worten zu hören, ist enorm bewegend“, sagt Jayne Pierce. Was hat sie am meisten beeindruckt? „Wie nah die Vergangenheit zu sein scheint. Man stellt sich diese Industrie als etwas Fernes vor, aber das ist sie nicht. Sie ist greifbar.“
Die Gespräche konnten einige Mythen ausräumen, insbesondere die weit verbreitete Vorstellung, dass Walfang ausschließlich von Norwegern oder Amerikanern betrieben wurde. „Aus britischer Sicht dachten viele Menschen, dass dies etwas war, was andere taten, die Norweger oder die Amerikaner, obwohl es tatsächlich ein sehr wichtiger Teil der britischen Sozialgeschichte war.“
Zugänglich gemachte Erinnerung
Die Zugänglichkeit steht im Mittelpunkt des Projekts. Der gesamte Inhalt ist unter einer Creative Commons Lizenz kostenlos online verfügbar. Ab Freitag kann das Publikum weltweit die Plattform über whalersmemorybank.sgmuseum.gs erkunden.
Die offizielle Eröffnung wird heute live auf der Website des South Georgia Heritage Trust übertragen und findet in Dundee, Schottland, unter Beteiligung des Historikers Dan Snow statt. Eine Aufzeichnung wird anschließend auf YouTube veröffentlicht. Ein virtueller 3D-Rundgang durch die Walfangstation Grytviken ist ebenfalls geplant.
Und das ist vielleicht erst der Anfang. „Wir arbeiten bereits mit dem Sandefjord Whaling Museum in Norwegen zusammen und wir wissen, dass die Arbeiter auch aus Deutschland, Argentinien und Spanien kamen. Die Idee ist, das Projekt für andere, internationalere Erzählungen zu öffnen.“
Erinnern, nicht romantisieren
Für Jayne Pierce ist die Memory Bank ebenso sehr eine Frage der Erinnerung wie der Reflexion. Der Walfang hat ein schweres ökologisches Erbe hinterlassen, das die heutige Naturschutzpolitik weiterhin prägt. Aber hinter dieser schmerzhaften Geschichte verbirgt sich eine menschliche Geschichte, die ehrlich und ohne Nostalgie erzählt werden muss.
„Einige waren auf der Suche nach Abenteuern, andere wollten nur ihre Familien ernähren“, sagt sie. „Ja, die Industrie war schrecklich. Das muss man anerkennen. Aber man muss auch verstehen, warum sie existierte und wer die Menschen waren, die sie erlebten.“
Nach zwei Jahren, in denen sie sich mit diesen Geschichten beschäftigte, sagt Jayne Pierce, dass dieses Projekt sie tief beeindruckt hat. „Es ist wirklich ein sehr starkes Projekt. Ich arbeite seit 20 Jahren in Museen und ich denke, dass dieses Projekt der Sozialgeschichte sehr bereichernd war.“
Die wahre Stärke der Whalers‘ Memory Bank liegt in ihrer Fähigkeit, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden, nicht durch Zahlen oder Heldengeschichten, sondern durch die stille Würde der gelebten Erfahrung. Diese Geschichten, Objekte und Stimmen bieten mehr als nur ein Fenster in die Vergangenheit: Sie erinnern uns daran, dass im Herzen jeder Industrie Menschenleben durch Not, Widerstandsfähigkeit und Erinnerung geformt werden.
Live-Veranstaltung: Freitag, 27. Juni, 11:00 BST. Übertragung auf der Website des South Georgia Heritage Trust
Erkunden Sie die Whalers‘ Memory Bank: whalersmemorybank.sgmuseum.gs
Kurzfilm über das Projekt : Sehen Sie ihn hier