Vom arktischen Winzflecken zur global bedeutsamen Ortschaft
Am südwestlichen Rand Grönlands, am stillen Arsukfjord, liegt Ivittuut – heute eine verlassene, windgepeitschte Siedlung. Doch einst war dieser Ort ein Zentrum weltweiter Industriegeschichte.
Der Grund dafür war ein außergewöhnliches Mineral – der Kryolith.
Die Inuit der Region kannten das weisse, leicht zerfallende Gestein, nutzten es im Alltag aber nicht und fokussierten sich aufs Jagen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Kryolith dann das erste Mal vom Dänen wissenschaftlich beschrieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts klassifizierte der Forscher Karl Ludwig Giesecke das grosse Vorkommen bei Ivittuut und erkannte dessen geologische Besonderheit.
Mitte des 19. Jahrhunderts begann der industrielle Abbau. Ab 1854 und später mit einem dänischen Monopolunternehmen, entwickelte sich Ivittuut zu einer Bergbaustadt. Die Nachfrage explodierte, als das neue Aluminium-Schmelzverfahren erfunden wurde. Kryolith wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil der modernen Metallindustrie, denn es ermöglichte die industrielle Herstellung von Aluminium, einem Grundbaustoff welches für neue Technologien wie Maschinen und später auch Flugzeuge eingesetzt wurde.
Industrie, 2. Weltkrieg und Rückzug der Menschen
Über Jahrzehnte hinweg war Ivittuut die einzige bedeutende Quelle natürlichen Kryoliths weltweit. Die Lagerstätte war so rein und so ergiebig, dass sie zu einem strategischen Rohstoff wurde.
Während des Zweiten Weltkriegs erreichte diese Bedeutung ihren Höhepunkt. Da Aluminium für den Flugzeugbau entscheidend war, galt Kryolith als kritischer Rohstoff. Die Vereinigten Staaten sicherten deshalb die Region militärisch ab und errichteten am 1. April 1943 nahe der Mine die Basis Bluie West Seven. Damit sollte verhindert werden, dass feindliche Mächte Zugriff auf den Rohstoff erhielten. Nach dem Krieg wurde die Basis an Dänemark übergeben und trägt heute den Namen Kangilinnguit/Grønnedal.
Nach dem Krieg wurde der Abbau bei Ivittuut fortgeführt, doch je weiter das 20. Jahrhundert voranschritt, desto näher rückte das Ende der Ortschaft. Die Lagerstätte war wirtschaftlich nicht mehr rentabel, und synthetischer Kryolith wurde zunehmend zur Alternative. Anfang der 1960er Jahre wurde der aktive Abbau eingestellt, die noch vorhandenen Halden wurden jedoch weiterhin verschifft, bis die Mine 1987 endgültig geschlossen wurde und kein Kryolithexport mehr aus Ivittuut stattfand.
Mit dem Ende des Bergbaus zogen auch die Menschen weg. Die dortigen Gebäude verfielen langsam, und die Natur holte sich ihren Raum immer mehr zurück. Aus der einst international bedeutenden Siedlung wurde eine Geisterstadt.
Die Rückkehr eines vergessenen Rohstoffs in die politische Debatte
Mehr als drei Jahrzehnten nach dem Ende der Miene geriet Ivittuut unerwartet erneut in die Schlagzeilen. Eine umstrittene Dokumentation aus dem Jahr 2025 beleuchtet die wirtschaftliche Bedeutung des damaligen Kryolithabbaus und geht der Frage nach, wie die Gewinne aus der Ressourcennutzung verteilt wurden.
Laut Recherchen im Dokumentarfilm soll der Kryolithexport über mehr als ein Jahrhundert beträchtliche Umsätze erzielt haben, deren Nutzen für Grönland selbst jedoch unklar bleibt. Die Dokumentation löste eine intensive politische Debatte aus: Einige sehen Ivittuut als mögliches Beispiel kolonialer Ungleichheiten, während andere vor vorschnellen Schlussfolgerungen warnen und darauf hinweisen, dass hohe Erlöse durch erhebliche Abbau- und Transportkosten relativiert werden könnten.
Unabhängig von der Bewertung zeigte diese Diskussion, wie stark historische Rohstoffgeschichten bis in die Gegenwart wirken können und wie ungelöste Fragen alter Machtstrukturen heute neue politische Dynamik auslösen können.
Marcel Schütz, PolarJournal