Der Sommer 2024 war auf Svalbard der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen – mit Temperaturen, die nicht mehr der Definition eines «polaren Klimas» entsprechen.
«Das Ausmaß der Erwärmung im Sommer 2024 in Svalbard ist so groß, dass es nicht mehr der klimatologischen Definition eines ‘polaren Klimas’ entspricht.»
Zu diesem beunruhigenden Schluss kommt eine aktuelle Studie des Finnischen Meteorologischen Instituts, erschienen am 15. April in der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters.
Longyearbyen, der Hauptort von Svalbard, liegt auf 78° nördlicher Breite, 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt und soll aus klimatologischer Sicht nicht mehr arktisch sein? Zumindest nicht im vergangenen Jahr: Der Studie zufolge erreichte die monatliche Durchschnittstemperatur im August 2024, gemessen am nahe gelegenen Flughafen, mit 11°C einen neuen Rekordwert. Polares Klima herrscht laut Definition dann, wenn die mittlere Temperatur jedes Monats 10 °C nicht übersteigt.
Der Sommer 2024 war in Svalbard in mehrfacher Hinsicht ein Rekordsommer. Die August-Temperaturen überschritten nicht nur die 10 °C-Marke um 1 °C, sondern lagen auch ganze 2,6 °C über dem bisherigen August-Rekord aus dem Jahr 2023. Außerdem übertraf der neue August-Rekord selbst den Höchstwert für Juli – den in Svalbard üblicherweise wärmsten Monat – um 1 °C.
Damit war der August 2024 der wärmste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1899. Auch der gesamte Sommer von Juni bis August war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen – mit einem Rekord, der mit einem bislang beispiellosen Temperatursprung gebrochen wurde.
Dr. Heïdi Sevestre, Glaziologin:
«Es war windstill auf dem Trollsteinen. Um 22 Uhr stand die Mitternachtssonne noch knapp unter dem Horizont, der Himmel war golden und rot. Und während ich wanderte, fragte ich mich, wie dieser Ort, mein Lieblingsort auf der Erde, wohl in 5 oder 10 Jahren aussehen würde. Ich dachte an den irrsinnigen Temperaturanstieg, mit dem dieser Ort konfrontiert ist… Dass wir vielleicht eines Tages nur noch in der Vergangenheitsform über Meereis sprechen würden. Dass Svalbard vielleicht eines Tages zu warm wird, um noch Arktis genannt zu werden.»
Eindrücke und Gedanken der renommierten Glaziologin, die sie vor zwei Wochen während einer Wanderung auf Svalbard sammelte und in einem Post auf LinkedIn teilte, kurz bevor sie auf die aktuelle Studie stieß.
Bisher traten Temperaturrekorde in der Hocharktis vor allem im Winter auf – mitunter mit ungewöhnlichen Regenfällen und fatalen Folgen, insbesondere für Rentiere.
Wärme aus dem Süden
Um den Ursachen dieser massiven Erwärmung nachzugehen, die sich seit einigen Jahren auch im Sommer deutlicher zeigt, wertete das Forschungsteam unter der Leitung von Daan van den Broek, Meteorologe am Finnischen Meteorologischen Institut und Hauptautor der Studie, Reanalysedaten zur Atmosphäre und zum Ozean aus.
Ausschlaggebend für die Rekordwerte im August waren demnach anhaltende südliche Winde über Svalbard und der Barentssee, die auch die Meeresoberfläche außergewöhnlich stark erwärmten. Besonders in der Barentssee lagen die Wassertemperaturen an der Oberfläche im August 4 bis 5 °C über dem langjährigen Mittel.
Die ungewöhnlich hohen Meerestemperaturen hielten über den Sommer hinaus an, nahmen jedoch im Laufe des Herbstes und Winters deutlich ab. Im Vergleich zum langjährigen Mittel (1991–2020) sind die Temperaturen der Meeresoberfläche aber noch immer leicht erhöht. Daan van den Broek sieht darin einen Zusammenhang mit der ebenfalls ungewöhnlich geringen Meereisbedeckung in der Barentssee und rund um Svalbard, wie er gegenüber polarjournal.net in einer E-Mail erklärt.
Die Forscher machen für die anhaltend hohen Temperaturen einen stark mäandrierenden Jetstream verantwortlich – ein Phänomen, das auch in gemäßigten Breiten immer häufiger für stabile Wetterlagen sorgt, die über Wochen bestehen können.
Die sommerlichen Temperaturen haben einen entscheidenden Einfluss auf das arktische Ökosystem. Steigen sie ungewöhnlich stark an, beschleunigt das nicht nur das Abschmelzen der Gletscher, sondern auch das Auftauen des Permafrosts. Diese Veränderungen wirken sich auf die gesamte Ökologie der Region aus, von der Vegetation bis hin zu Tierarten, die an das raue Klima angepasst sind.
Keine stärkeren Niederschläge
Höhere Meerestemperaturen ziehen häufig stärkere Niederschläge nach sich – wie zuletzt in verschiedenen Regionen Europas zu beobachten war. Rund um Svalbard blieb dieser Effekt im Sommer 2024 jedoch aus, so van den Broek.
Trotz der außergewöhnlich hohen Meeresoberflächentemperaturen erhöhten sich die Niederschlagsmengen in der Region nicht. Der August, in dem die Meerestemperatur-Anomalien ihren Höhepunkt erreichten, brachte eher durchschnittliche bis geringe Niederschlagsmengen. Auch Herbst und Winter fielen trockener aus als in vergangenen Jahren. Ursache dafür waren dem Forscher zufolge stabile Hochdruckgebiete über Svalbard, die den Einfluss des warmen Ozeans auf den Niederschlag unterdrückten.
In Zukunft wärmere Sommer auf Svalbard
Besonders besorgniserregend findet van den Broek, dass sich warme Extreme in der Arktis nicht einfach linear mit dem Klimawandel verstärken, sondern überproportional zunehmen. «Das bedeutet, dass warme Extreme – vorausgesetzt, die Bedingungen sind günstig – ein viel größeres ‘Potenzial’ haben als in früheren klimatologischen Perioden», erklärt van den Broek. Dazu trägt vor allem die Wechselwirkung mit den hohen Meeresoberflächentemperaturen bei.
Insgesamt erwartet das Forschungsteam, dass sich die Sommer auf Svalbard weiter erwärmen werden. Zudem könnten sich extreme Ausreißer-Monate mit ungewöhnlich hohen Temperaturen häufen – insbesondere, wenn atmosphärische Zirkulationsmuster auftreten, die ohnehin schon warmes Wetter begünstigen.
Diese Prognose gilt allerdings unter der Voraussetzung, dass es nicht zu plötzlichen, großräumigen Veränderungen in der Ozean- oder Atmosphärenzirkulation kommt – wie etwa im Falle eines möglichen Zusammenbruchs der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation (AMOC).
Ob sich zudem stabile, anomale Wetterlagen durch den Klimawandel selbst verstärken, ist laut van den Broek derzeit noch unklar – und seiner Einschätzung nach auch schwer vorherzusagen.