Pariser Abkommen mit 1,5°C ist zu heiss für polare Eispanzer warnen Forschende

von Dr. Michael Wenger
05/21/2025

In einer gestern veröffentlichten Studie warnen Forschende, dass das Klimaziel von +1,5 °C nicht ausreicht, um die riesigen Eisschilde Grönlands und der Antarktis vor dem Abschmelzen zu schützen. Sie fordern schnell ein neues, kühleres Ziel.

Eine neue wegweisende Studie liefert eine ernüchternde Botschaft: Das Ziel, die globale Erwärmung auf +1,5 °C zu begrenzen, reicht nicht aus, um die riesigen Eisschilde Grönlands und der Antarktis vor einem katastrophalen Abschmelzen zu bewahren, das in den kommenden Jahrhunderten zu einem Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter führen könnte. Das internationale Expertenteam kommt zu dem Schluss, dass selbst die derzeitige Erwärmung um +1,2 °C, sollte sie anhalten, bereits einen gefährlichen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge hätte.

Laut der neuen Studie werden die Gletscher in der Antarktis auch bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf +1,5°C weiter schmelzen. Bild: Julia Hager

Das Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung auf „deutlich unter +2 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und die Bemühungen fortzusetzen, die Temperaturerhöhung auf +1,5 °C zu begrenzen“, ist ein Eckpfeiler der globalen Klimapolitik. Diese neue Zusammenfassung von Erkenntnissen aus vergangenen Warmzeiten, aktuellen Beobachtungen und numerischen Modellen legt jedoch nahe, dass dieser weithin akzeptierte Grenzwert für die polaren Eismassen unseres Planeten viel zu hoch ist.

Der Hauptautor Professor Chris R. Stokes von der Durham University in Großbritannien erklärte in einer Pressemitteilung der Durham University zu der Studie: „Es häufen sich die Hinweise darauf, dass 1,5 °C für die Eisschilde in Grönland und der Antarktis zu hoch sind. Wir wissen schon seit langem, dass ein gewisser Anstieg des Meeresspiegels in den nächsten Jahrzehnten bis Jahrhunderten unvermeidbar ist, aber die jüngsten Beobachtungen zum Verlust der Eisschilde sind selbst unter den aktuellen Klimabedingungen alarmierend.“

Lektionen aus der Vergangenheit der Erde zeichnen ein düsteres Bild

Das Forschungsteam untersuchte die Klimageschichte der Erde und verglichen Perioden, in denen die globalen Temperaturen ähnlich oder etwas wärmer waren als heute. Während der letzten Zwischeneiszeit (vor etwa 125.000 Jahren), als die Temperaturen nur 0,5 bis 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau lagen, war der globale Meeresspiegel wahrscheinlich 6 bis 9 Meter höher als heute. Noch weiter zurück, während der mittleren Warmzeit des Pliozäns (~3 Millionen Jahre vor heute), mit CO2-Konzentrationen ähnlich denen von heute (~350-450 ppm) und Temperaturen, die um +2 bis +5 °C höher lagen, stieg der Meeresspiegel um 10 bis 20 Meter, was auf ein eisfreies Grönland und eine wesentlich kleinere antarktische Eisschicht hindeutet. Diese Paläodaten sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass selbst eine anhaltende Erwärmung um 1 °C oder knapp darüber zu einem Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter führen wird.

Der heutige Eisverlust: Eine sich beschleunigende Krise

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich der Massenverlust der Eisschilde Grönlands und der Antarktis vervierfacht. Sie sind keine schlummernden Riesen mehr, sondern tragen heute maßgeblich zum globalen Anstieg des Meeresspiegels durch die Kryosphäre bei. Der Grönländische Eisschild ist besonders gefährdet, da sich die Arktis fast viermal schneller erwärmt als der globale Durchschnitt. Die derzeitige Geschwindigkeit des Massenverlusts ist zumindest in den letzten 180 Jahren beispiellos.

In der Antarktis hat sich der Gletscherschwund des westantarktischen Eisschildes (WAIS) beschleunigt, insbesondere in der Einbuchtung der Amundsen-See, wo warmes Meerwasser einströmt. WissenschaftlerInnen warnen, dass diese Region bereits in einen Zustand der marinen Eisschildinstabilität (MISI) geraten sein könnte, eine sich selbst verstärkende Rückkopplung, bei der der Rückzug des Eises auf festeren Untergrund den Gletscherschwund beschleunigt. Beunruhigend ist, dass auch in den marinen Bereichen des viel größeren ostantarktischen Eisschildes Anzeichen für einen Massenverlust zu erkennen sind.

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Das Video zeigt das Abschmelzen des westantarktischen Eisschildes und die erwarteten Beiträge zum Anstieg des Meeresspiegels. Video: Europäische Weltraumorganisation ESA

Modelle bestätigen: Kein Aufschub bei 1,5°C

Numerische Eisschildmodelle, die einen Blick in die Zukunft werfen, bestätigen die düsteren Aussichten. Selbst unter dem „sehr niedrigen“ Emissionsszenario des Weltklimarats (IPCC), das einen kurzen Überschuss von +1,5 °C vor einer Stabilisierung bei +1,4 °C bis 2100 vorsieht, wird davon ausgegangen, dass die Eisschilde weiter an Masse verlieren und zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen werden. Der Studie zufolge könnte selbst die Beibehaltung des Treibhausgasausstoßes von 2020 (etwa +1,1 °C bis +1,2 °C) bis 2500 allein in der Antarktis zu einem Anstieg des Meeresspiegels um über einen Meter führen, wenn bestimmte Instabilitätsmechanismen wie die Marine Ice Cliff Instability (MICI) ausgelöst werden. Professor Stokes betonte: „Die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C wäre eine große Leistung und sollte unbedingt unser Ziel sein. Aber selbst wenn dieses Ziel erreicht oder nur vorübergehend überschritten wird, müssen sich die Menschen bewusst sein, dass der Meeresspiegelanstieg wahrscheinlich so schnell voranschreiten wird, dass es sehr schwierig sein wird, sich daran anzupassen – ein Anstieg von einem Zentimeter pro Jahr ist innerhalb einer Generation durchaus möglich.“

Ein neues, kühleres Ziel muss her

Das Forschungsprojekt kommt zu dem Schluss, dass die derzeitige globale Durchschnittstemperatur bereits zu hoch ist, um die Eisschilde in ihrem gegenwärtigen Zustand zu erhalten. Um einen katastrophalen Anstieg des Meeresspiegels zu vermeiden, geht das Team davon aus, dass die globale Durchschnittstemperatur niedriger sein muss als heute, wahrscheinlich näher bei +1,0 °C über dem Wert vor der Industrialisierung oder sogar noch niedriger.

„… Land, das durch den Anstieg des Meeresspiegels aufgrund schmelzender Eisschilde verloren geht, wird für eine sehr, sehr lange Zeit verloren sein. Deshalb ist es so wichtig, die Erwärmung von vornherein zu begrenzen.“

Prof. Robert M. DeConto, Universität von Massachusetts Amherst

Das Team betont dass es angesichts der potenziell verheerenden Folgen für die Küstenbevölkerung weltweit und des Risikos, dass „Kipppunkte“ der Eisschilde erst erkennbar werden, wenn sie bereits unwiderruflich überschritten sind, unbedingt erforderlich ist, das Vorsorgeprinzip anzuwenden. Der Bericht unterstreicht die dringende Notwendigkeit von Emissionsreduktionen, die weit über die derzeitigen globalen Ambitionen hinausgehen, um eine Zukunft mit dramatisch veränderten Küstenlinien abzuwenden.

Co-Autor Professor Robert M. DeConto von der University of Massachusetts Amherst: „Selbst wenn die Erde zu ihrer vorindustriellen Temperatur zurückkehrt, wird es Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Jahren dauern, bis sich die Eisschilde erholen. Wenn zu viel Eis verloren geht, erholen sich Teile dieser Eisschilde möglicherweise erst, wenn die Erde in die nächste Eiszeit eintritt. Mit anderen Worten: Land, das durch den Anstieg des Meeresspiegels aufgrund schmelzender Eisschilde verloren geht, wird für eine sehr, sehr lange Zeit verloren sein. Deshalb ist es so wichtig, die Erwärmung von vornherein zu begrenzen.“

Link zur Studie: Stokes et al. (2025) Nature Comm Earth Environ 6 (351), Warming of +1.5 °C is too high for polar ice sheets; DOI: https://doi.org/10.1038/s43247-025-02299-w