Das schwindende Meereis scheint Grauwale im östlichen Nordpazifik auch in diesem Jahr in Bedrängnis zu bringen: Viele Tiere sind abgemagert und die Zahl der neugeborenen Kälber ist auf einem Rekordtief.
Jedes Jahr unternehmen Grauwale (Eschrichtius robustus) im östlichen Nordpazifik eine der längsten Wanderungen im Tierreich. Im Frühjahr ziehen sie von den Lagunen vor der mexikanischen Halbinsel Baja California nach Norden zu ihren arktischen Nahrungsgründen. Im Herbst kehren sie nach Mexiko zurück, um sich zu paaren und ihre Jungen zur Welt zu bringen. Je nachdem, wie weit nördlich sie nach Nahrung suchen, legen die Wale pro Jahr mehr als 15.000 Kilometer zurück – ein enormer Kraftakt, den sie fast ausschließlich mit ihren Fettreserven bewältigen.
Nach fast vollständiger Ausrottung durch den industriellen Walfang im 20. Jahrhundert erholte sich die Grauwal-Population vergleichsweise rasch. Anfang der 1980er-Jahre zählte die Population bereits wieder rund 25.000 Tiere – möglicherweise so viele wie vor dem Walfang, vielleicht sogar mehr.
Doch seitdem kam es zweimal zu drastischen Bestandsrückgängen. Diese sogenannten «Unusual Mortality Events» (UME – Ungewöhnliche Mortalitätsereignisse) – 1999/2000 und 2019-2023 – wurden durch ungünstige Umweltbedingungen in der Arktis ausgelöst. In Folge waren wesentlich weniger Beutetiere für die Grauwale verfügbar, wie eine bereits im Jahr 2023 im Fachjournal Science veröffentlichte Studie unter Leitung von Dr. Josh Stewart vom Marine Mammal Institute der Oregon State University zeigt.
Ausschlaggebend sei hier vor allem die Meereissituation: In Jahren mit deutlich geringerer Eisbedeckung gelangen weniger Meereisalgen auf den Meeresboden – eine wichtige Nahrungsquelle für benthisch lebende Kleinkrebse wie Flohkrebse, die wiederum die bevorzugte Beute der Grauwale sind.
Grauwale, die zu den Bartenwalen gehören, halten sich meist in Küstengewässern auf und sind bekannt für ihr einzigartiges Fressverhalten am Meeresboden: Sie rollen sich auf die Seite, um Sedimente aufzuwühlen und darin lebende Beutetiere herauszufiltern.
Die Grauwalpopulation im östlichen Nordpazifik, die 2023 nach dem mehrjährigen UME auf weniger als 15.000 Tiere zurückging und im Frühjahr 2024 bereits wieder auf rund 19.000 Tiere geschätzt wurde, wird in zwei Gruppen unterschieden: Eine kleine Gruppe, die Pacific Coast Feeding Group, bleibt das ganze Jahr über entlang der Westküste der USA und Kanadas und sucht in den Küstengewässern von Kalifornien bis British Columbia nach Nahrung. Alle anderen Grauwale zählen zur Arctic Feeding Group, die jährlich zwischen Mexiko und ihren arktischen Nahrungsgründen in der Tschuktschen-, Bering- und Beaufortsee wandert.
Anzeichen für einen neuen dramatischen Rückgang
Das letzte ungewöhnliche Massensterben von 2019 bis 2023 liegt noch nicht lang zurück. Doch es mehren sich Anzeichen, dass 2025 erneut ein kritisches Jahr für die Grauwale werden könnte. Bereits im April berichtete die Zeitung Lincoln Chronicle von auffallend vielen abgemagerten Tieren entlang der US-Westküste.
«Die Zahlen sind bisher die niedrigsten aller Zeiten, und die Wale, die wir sehen, sind extrem abgemagert», sagte Alisa Schulman-Janiger, die bei Los Angeles eine Initiative zur Zählung der Pazifischen Grauwale leitet, gegenüber dem Lincoln Chronicle. «Ihre Rippen stehen hervor, und ihre Schulterblätter und Wirbel sind sogar von der Küste aus sichtbar. Es ist wirklich einfach nur schrecklich.»
Aus Mexiko wurden hohe Zahlen von gestrandeten Walen gemeldet, wie Dr. Stewart gegenüber polarjournal.net in einer Email berichtet, – «so hoch wie während des Höhepunkts des Massensterbens von 2019».
Anders als von ihm erwartet, sind die Strandungen an der US-Westküste glücklicherweise noch nicht ungewöhnlich hoch. Allerdings wurden mehr Grauwale in der Bucht von San Francisco gesichtet (die teilweise mit Schiffen kollidierten) als gewöhnlich, was darauf hindeutet, dass sie in schlechter Verfassung und auf der Suche nach Nahrung sind.
Auch die Sichtung von Kälbern ist auf einem historischen Tiefstand, wie Dr. Stewart berichtet: «Die Zähldaten von der Nordwärtswanderung sind ein guter Indikator für den Fortpflanzungserfolg. Und ja, die [diesjährigen] Zahlen waren die niedrigsten seit Beginn der Aufzeichnungen, was darauf hindeutet, dass der Fortpflanzungserfolg weiterhin extrem niedrig ist.» Aktuell sei es jedoch noch zu früh für eine verlässliche Aussage über die diesjährige Populationsgröße und Mortalität.
Die Ursache für die schlechte körperliche Verfassung der Grauwale und den praktisch ausgebliebenen Fortpflanzungserfolg liegt dem Forscher zufolge in der geringen Meereisbedeckung in den arktischen Nahrungsgebieten und der damit einhergehenden schlechten Beuteverfügbarkeit.
«Die körperliche Verfassung ist sowohl bei Grauwalen als auch bei anderen Bartenwalen ein sehr sensibler Indikator für den Zustand der Population. Wir wissen, dass bei Massensterben sowohl die Geburtenrate als auch die körperliche Verfassung rapide abnehmen. Die Überwachung des körperlichen Zustand gibt uns also einen ziemlich guten Überblick über den Zustand der Population. Eine schlechte Verfassung ist ein Indikator dafür, dass die Population weiterhin unter Nahrungsmangel leidet und wahrscheinlich weiter schrumpfen wird», erklärt Dr. Stewart.
Karten: Meereisdaten vom 15.06.2024 und 15.06.2025 stammen von www.meereisportal.de (Förderung: REKLIM-2013-04). Spreen, G.; Kaleschke, L. and Heygster, G. (2008), Sea ice remote sensing using AMSR-E 89 GHz channels J. Geophys. Res.,vol. 113, C02S03, doi:10.1029/2005JC003384
Auf die Frage, ob sich Grauwale an die veränderten Bedingungen anpassen können, sagt er: «Das ist die große Frage. Wir wissen, dass sich Grauwale von frei im Wasser lebender Beute ernähren können (z. B. Krill, Schwebegarnelen, gelegentlich kleine Fische), aber sie sind dafür nicht so gut geeignet wie Arten, die große Mengen an Beute mit weit geöffnetem Maul aufnehmen (z. B. Buckelwale) oder an der Oberfläche filtrierende Wale (z. B. Grönlandwale). Sie sind auf die Ernährung von am Meeresboden lebender Beute ausgelegt, haben also die meisten ihrer Kehlfalten verloren und nur kurze Bartenplatten, was es ihnen erschwert, sich effizient von pelagischer Beute zu ernähren.»
Tatsächlich wurden Grauwale während früherer Massensterben häufiger dabei beobachtet, wie sie in ungewöhnlichen Regionen nach Nahrung suchten oder pelagische Beute wie Krill und Schwebegarnelen fraßen – ein möglicher Hinweis darauf, dass alternative Nahrungsquellen und -gebiete ihnen zumindest kurzfristige Vorteile bringen könnten. Die Pacific Coast Feeding Group, die sich in genau solchen alternativen Habitaten aufhält, umfasst jedoch nur etwa 200 Tiere und ist laut Stewart insgesamt kleiner und magerer als ihre in der Arktis fressenden Artgenossen – ein Zeichen dafür, dass diese Ausweichstrategien wohl nur begrenzte Erfolgschancen bieten.
Auch eine Ausweitung des Verbreitungsgebiets weiter nach Norden hält Stewart nicht für realistisch. Die produktiven, flachen Schelfregionen enden dort abrupt – weiter nördlich fällt der Meeresboden steil ab, und die für Grauwale typischen benthischen Nahrungsgründe fehlen. Eine einfache Anpassung durch „Weiterwandern“ in kühlere Regionen scheint also keine Lösung.
Ob und wie sich die Grauwale an die neuen Umweltbedingungen anpassen können, bleibt ungewiss und ist wohl stark davon abhängig wie schnell die Erwärmung der Arktis weiter voranschreitet.
Die Vergangenheit zeigt, dass sich die Population auch nach dramatischen Verlusten wieder erholen konnte. Bleibt zu hoffen, dass die Grauwale auch dem Klimawandel etwas entgegensetzen können.