Jenseits der „Begrünung“: Die Antarktis, wissenschaftliche Debatten und die Medienberichterstattung

von Dr. Michael Wenger
07/11/2025

Eine 2024 Studie behauptete, dass die Halbinsel der Antarktis immer grüner wird. Zwei neue Veröffentlichungen stellen dies jedoch infrage und lösen eine Debatte darüber aus, wie dramatisch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Antarktis kommuniziert werden sollten.

Eine Studie aus dem Jahr 2024 in Nature Geoscience lieferte eine auffällige Schlagzeile: Die Antarktische Halbinsel erlebt eine weitreichende und sich beschleunigende „Begrünung“. Diese Darstellung eines sich erwärmenden Kontinents, der neues Leben fördert, schien mit Trends in anderen kalten Regionen wie der Arktis übereinzustimmen. Zwei anschließend veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten haben jedoch erhebliche Zweifel an diesen Ergebnissen geäußert und argumentieren, dass der Begrünungstrend eine Illusion sein könnte, die durch methodische Mängel und unrealistische biologische Annahmen entstanden ist. Dies wirft auch die Frage auf, wie dramatisch Forschung über die Antarktis kommuniziert werden sollte.

Die Frage, ob die Antarktische Halbinsel grüner geworden ist, wird von zwei neuen Studien verneint. Symbolisches Bild: Instituto Milenio BASE

Die Studie von Thomas Roland und seinem Team nutzte Google Earth Engine, um Tausende von Satellitenbildern aus den Jahren 1986 bis 2021 zu verarbeiten. Zur Identifizierung der Vegetation verwendeten sie den Normalisierten Differenzvegetationsindex (NDVI)>, ein gängiges Instrument, das anhand der Lichtreflexion die „Grünheit” eines Gebiets misst. Sie legten einen Schwellenwert von NDVI 0,2 fest, um eine „fast sichere“ Vegetationspräsenz anzuzeigen, und stellten einen statistisch signifikanten Anstieg der Grünflächen im Laufe der Jahrzehnte fest. Die Ergebnisse zeigten eine fast 14-fache Zunahme der Vegetation von geschätzten 0,863 km² im Jahr 1986 auf 11,947 km² im Jahr 2021. Die VerfasserInnen kamen zu dem Schluss, dass dieser Trend eine Ausdehnung der moosdominierten Ökosysteme der Halbinsel als Reaktion auf den Klimawandel widerspiegelt. Sie räumten zwar Herausforderungen wie anhaltende Bewölkung ein, argumentierten jedoch, dass die beobachtete Begrünung eine echte biologische Reaktion und nicht nur ein Artefakt besserer Daten in den letzten Jahren sei.

Ein methodologisches und biologisches Gegenargument

Diese Schlussfolgerung wurde schnell angefochten. Ein Vorabdruck von Stef Bokhorst und einem Forscherteam sowie ein umfassenderer Diskussionsbeitrag in Global Change Biology von Dr. Claudia Colesie und Kolleginnen stellen die Gültigkeit der Behauptungen direkt in Frage. Die Kritiker bezeichnen die angegebenen Ausbreitungsraten als „biologisch unplausibel”. Mitautor Professor Peter Convey vom British Antarctic Survey erklärt: „Einige der jüngsten Schätzungen gehen von Ausbreitungsraten aus, die schneller sind als die von invasiven Arten in gemäßigten Zonen, was in der extremen Umgebung der Antarktis biologisch einfach nicht möglich ist.”

Die Kritiker gehen auf mehrere zentrale Punkte ein, die die These der Begrünung entkräften. Ein wichtiger Streitpunkt ist die Verfügbarkeit von Daten und die Grenzen der verwendeten Technologie. Die Kritiker argumentieren, dass nie eine vollständige, wolkenfreie Basislinie für die Landfläche der Antarktischen Halbinsel erstellt wurde. Über 100 km² der Region wurden erst in den letzten fünf Jahren zum ersten Mal wolkenfrei aus dem Weltraum beobachtet, sodass nicht festgestellt werden kann, ob dort bereits Vegetation vorhanden war. Darüber hinaus ist die Auflösung der Landsat-Pixel mit 30 Metern zu grob, um die kleine, fleckige Vegetation der Antarktis genau zu kartieren, was zu erheblichen Überschätzungen der Vegetationsbedeckung führen kann. Kritiker schlagen auch alternative Erklärungen für die aus dem Weltraum erfassten „grünen” Signale vor. Anstelle einer weit verbreiteten Ausbreitung von Moosen könnten diese Signale durch kurzlebige Phänomene wie Blüten von Landalgen und Cyanobakterien oder sogar an Land gespülte Algen verursacht worden sein, die alle ein starkes, aber vorübergehendes grünes Signal erzeugen können. Der Kern des Gegenarguments ist das Fehlen einer soliden Validierung vor Ort. Historische Aufzeichnungen und Fotos aus den 1970er Jahren zeigen eine bedeutende Vegetation auf Elephant Island, einem Gebiet, das laut der Satellitenstudie erst kürzlich aufgrund fehlender früherer, verwertbarer Bilder grün geworden sein soll. Ohne diese „Bodenwahrheit” seien groß angelegte Schlussfolgerungen, die allein auf Satellitendaten basieren, mit Unsicherheiten behaftet, argumentieren die Kritiker.

Sensationalismus für mehr Aufmerksamkeit?

Dieser wissenschaftliche Schlagabtausch verdeutlicht die immensen Herausforderungen, die mit der Überwachung eines so riesigen und abgelegenen Kontinents wie der Antarktis verbunden sind. Die Debatte über den „Grünungs“-Trend wirft jedoch eine umfassendere und vielleicht beunruhigendere Frage darüber auf, wie Wissenschaft kommuniziert wird. Greifen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der wettbewerbsorientierten Welt der Forschung zunehmend zu dramatischen, vereinfachten Darstellungen, um die Aufmerksamkeit von Fachzeitschriften und der Öffentlichkeit zu gewinnen?

Tote Jungtiere erregen immer viel Aufmerksamkeit. Im Jahr 2023 führte ein Brutversagen in einer Kaiserpinguin-Kolonie zu einer Debatte über das Überlebenspotenzial von Kaiserpinguinen. Bild: Michael Wenger

Ein Beispiel für dramatische Behauptungen, denen wissenschaftliche Forderungen nach Differenzierung folgten, findet sich bei den bekanntesten Wildtieren der Antarktis. Eine Studie aus dem Jahr 2023 in Communications Earth & Environment dokumentierte einen „katastrophalen Brutausfall” bei Kaiserpinguinen, bei dem ein Rekordverlust an Meereis im Jahr 2022 zum Tod von bis zu 10.000 Küken führte. Die Studie prognostizierte, dass bei anhaltender Erwärmung bis zum Jahr 2100 über 90 % der Kolonien „quasi ausgestorben” sein könnten. Während die Daten zum Brutversagen selbst unumstritten waren und tatsächlich eine Katastrophe für die Kolonie darstellten, hob die anschließende Diskussion unter Forschenden das Risiko hervor, dies als unvermeidliche, unmittelbar bevorstehende Ausrottung darzustellen. Die Debatte konzentrierte sich auf die Zuverlässigkeit der Langzeitprognose, wobei andere Experten auf die bekannte Fähigkeit der Art zur Verlagerung von Kolonien und die Gefahren einer Extrapolation eines kontinentweiten Schicksals aus einem einzigen, wenn auch verheerenden regionalen Ereignis hinwiesen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren eine wichtige Warnung, doch das öffentliche Bild drohte zu einer Geschichte des sicheren Untergangs zu werden, die die Komplexität der Reaktionen des Ökosystems überschattete.

Eine ähnliche Dynamik umgibt den berüchtigten Thwaites-Gletscher, der in Medienberichten oft als „Weltuntergang-Glacier“ bezeichnet wird – ein Spitzname, den viele Wissenschaftler für übertrieben alarmistisch halten. Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Nature Geoscience enthüllte, dass sich der Gletscher in den letzten zwei Jahrhunderten zeitweise um mehr als 2,1 km pro Jahr zurückzog, doppelt so schnell wie zuletzt. Diese Erkenntnis wurde sofort als düstere Warnung vor einem raschen Zusammenbruch in der Zukunft interpretiert. Andere Glaziologen mahnten jedoch zur Vorsicht, nicht hinsichtlich der Daten, sondern hinsichtlich ihrer Interpretation. Sie wiesen darauf hin, dass der rasche Rückgang in der Vergangenheit nur von kurzer Dauer war und die konkreten Auslöser unbekannt sind, sodass es schwierig ist, von einem unmittelbar bevorstehenden identischen Ereignis auszugehen. In der wissenschaftlichen Debatte geht es nicht darum, ob der Thwaites-Gletscher in Gefahr ist – das ist er zweifellos –, sondern um den Zeitrahmen und die Gewissheit seines Zusammenbruchs. Daher entsteht das Etikett „sensationslüstern” meist durch die öffentliche Darstellung, die oft einer Erzählung von einer unmittelbaren Katastrophe den Vorzug vor der vorsichtigeren, differenzierteren Sprache der Wissenschaft gibt.

„Doomsday“ oder einfach Thwaites Glacier? Die Debatte über die Namen, die dieser massiven Eiswand gegeben wurden, ist noch nicht beendet. (Bild: Alexandra Mazur / Rob Larter)

Solche Fälle zeigen, dass es selten um aufgebauschte Daten geht, sondern um Interpretation und Kommunikation. Die ursprüngliche wissenschaftliche Arbeit ist in der Regel fundiert und präsentiert wichtige, oft alarmierende Ergebnisse, die auf Beobachtungen aus der realen Welt basieren. Sensationslust entsteht meist erst auf der Kommunikationsebene, beispielsweise in Pressemitteilungen, Schlagzeilen und öffentlichen Diskussionen. Dabei gehen oft Nuancen zugunsten einer spannenderen Erzählung verloren. Dies schafft ein schwieriges Umfeld, in dem Forschende die Dringlichkeit ihrer Erkenntnisse über die Zukunft der Antarktis vermitteln müssen, ohne die zugrunde liegenden Prozesse zu vereinfachen – eine wichtige Unterscheidung, die eine kritische Öffentlichkeit verstehen muss.

Links zu den Studien finden Sie im Text