Während die Erde eisige Jahrmillionen durchlebte, könnte frühes Leben in Äquatornähe überdauert haben, so eine neue Studie über Mikroorganismen in antarktischen Tümpeln aus Schmelzwasser.
Die Antarktis erweist sich einmal mehr als Fenster in die Vergangenheit: Vor etwa 720 bis 635 Millionen Jahren, als die Erde zwei globale, mehrere Millionen Jahre andauernde Vereisungsphasen durchlief, könnten vielfältige und komplexe mikrobielle Lebensgemeinschaften in flachen Teichen aus Schmelzwasser – ähnlich denen, die heute in der Antarktis zu finden sind – diese extremen «Schneeball Erde»-Perioden überlebt haben.
Die Hinweise dafür stammen aus einer Reihe von Schmelzwassertümpeln auf dem McMurdo Eisschelf in der Ostantarktis, die ein internationales Forschungsteam unter der Leitung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und unter Beteiligung der University of Waikato und weiterer Institutionen auf ihre Mikrobengemeinschaften untersuchte. Ihre Studie erschien am 19. Juni in Nature Communications.
Dank fossiler Funde ist gut belegt, dass es bereits vor diesen globalen Vereisungsphasen eukaryotisches Leben gab – komplexe Einzeller, aus denen sich später mehrzellige Organismen und schließlich das Leben entwickelte, wie wir es heute kennen. Während der sogenannten Cryogenium-Periode fielen die globalen Durchschnittstemperaturen vermutlich auf bis zu –50 °C. Ob unser Planet damals tatsächlich von einer massiven Eisdecke überzogen war – also ein echter «Schneeball Erde» – oder eher eine Art Schneematsch die Erdoberfläche bedeckte, ist nicht abschließend geklärt. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass der Großteil der Erdoberfläche gefroren war.
Bislang gehen Forschende davon aus, dass die frühen Lebensformen möglicherweise in Polynyas in Äquatornähe – nicht zugefrorenen Ozeanflächen – sofern sie existierten, an Hydrothermalquellen in der Tiefsee oder in subglazialen Seen unter kilometerdickem Eis überlebt haben könnten. Die Autor*innen der neuen Studie bringen nun mit den Schmelzwassertümpeln noch ein weiteres mögliches Refugium ins Spiel.
Angesichts der vielfältigen Lebensgemeinschaften, die sie in den Teichen auf dem McMurdo-Eisschelf nachweisen konnten – bestehend aus photosynthetisch aktiven Cyanobakterien sowie eukaryotischen Mikroorganismen wie Mikroalgen, Protisten und winzigen Tieren – vermuten sie, dass ähnliche Gemeinschaften auch während der globalen Vereisungen in oberflächennahen Schmelzwassertümpeln in Äquatornähe existiert haben könnten, wo die Temperaturen vielleicht rund um den Gefrierpunkt lagen.
«Es war ein Privileg, die Arten von Schmelzwasserseen zu untersuchen, die während der kryogenen Vereisungen existiert haben dürften. Langzeitstudien dieser Seen haben gezeigt, dass sie eine interessante bakterielle Vielfalt beherbergen, und einige der Faktoren, die diese Vielfalt beeinflussen, beginnen sich abzuzeichnen», schreibt Fatima Husain, Doktorandin am MIT und Erstautorin der Studie, in einer Email an polarjournal.net.
Das Forschungsteam analysierte anhand von Lipiden und genetischen Markern die Mikrobengemeinschaften von insgesamt 15 Schmelzwassertümpeln im sogenannten «Dirty Ice» – Gebiet, das bereits von der Scott-Expedition im Jahr 1903 so bezeichnet wurde, weil dunkle Sedimentablagerungen das Eis schmutzig erscheinen lassen. Die dunklere Oberfläche führt zur Absorption des Sonnenlichts und lokalem Schmelzen des Eises, sodass kleine, saisonale Tümpel mit wenigen Metern Tiefe entstehen.
Der Boden der Teiche ist von Zentimeter-dicken Matten aus Mikroorganismen bedeckt, wobei keine der Mikrobengemeinschaften der anderen gleicht. Jeder Tümpel hat seine eigene charakteristische Gemeinschaft, die sich perfekt an den jeweiligen pH-Wert, den Salzgehalt und die Temperatur angepasst hat. Besonders der Salzgehalt erwies sich dabei als entscheidender Faktor: Tümpel mit ähnlichem Salzgehalt wiesen auffallend ähnliche Lebensgemeinschaften auf – unabhängig davon, wo sie lagen. Die Forschenden schließen daraus, dass Umweltparameter eine stärkere Rolle für die Zusammensetzung der Organismengemeinschaften spielen als geografische Nähe.
Diese Vielfalt überrascht nicht nur durch ihre Komplexität, sondern auch durch ihre Ähnlichkeit zu dem, was sich vor hunderten Millionen Jahren zugetragen haben könnte.
Dass diese flachen Tümpel in der Lage sind, vielfältige, funktional vernetzte Lebensgemeinschaften zu erhalten, macht sie aus Sicht der Wissenschaft besonders spannend. Sie könnten als moderne Analoge zu oberflächlichen Schmelzwassertümpeln auf den Eisdecken der «Schneeball-Erde» dienen – damals möglicherweise in Äquatornähe, wo Staubablagerungen die Eisoberfläche erwärmten und kleine Schmelzgewässer entstehen ließen. Diese könnten über lange Zeiträume hinweg ausreichend stabile Bedingungen für komplexe Mikroorganismen geboten haben – und so als oberflächennahe Refugien gedient haben.
Für die Evolution des Lebens auf unserem Planeten wäre das von großer Bedeutung. Denn während der
«Schneeball Erde»-Phasen befand sich das eukaryotische Leben gerade in einer kritischen Entwicklungsphase. Wie Fatima Husain erklärt, untersuchte das Team gezielt die eukaryotischen Lebensgemeinschaften, um die Vielfalt der Arten, die in diesen Teichen vorkommen, genauer zu erfassen. «Angesichts der Ähnlichkeit dieser Teiche mit den Schmelzwasserseen auf den Eisschichten des Cryogeniums war es ermutigend, eine so große eukaryotische Vielfalt darin vorzufinden», sagt sie.
Auch für den neuseeländischen Polarforscher Dr. Ian Hawes von der University of Waikato, der seit Jahrzehnten antarktische Schmelzwassertümpel untersucht und am aktuellen Forschungsprojekt beteiligt war, hat die Antarktis in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Aufgrund der extremen Bedingungen seien die Binnenökosysteme der Antarktis heute einer der wenigen Lebensräume auf der Erde, in denen einfache Prokaryoten und Eukaryoten dominieren – also genau jene Lebensformen, die in den ersten zwei Milliarden Jahren der Erdgeschichte vorherrschten. «Zur Zeit der Schneeball-Erde, vor etwa 700 Millionen Jahren, begann sich komplexes Leben gerade zu entwickeln, und die einfachen eukaryotischen Linien entstanden, die wir heute in den antarktischen Tümpeln sehen», so Hawes. Die zentrale Frage sei, wie diese frühen Organismen über viele Millionen Jahre unter solch extremen Bedingungen überleben konnten – und sich später, als sich das Klima wieder erwärmte, rasch ausbreiten konnten. Die heutige Antarktis diene dabei gewissermaßen als natürliches Kältelabor, erklärt Hawes, und ermögliche es der Forschung zu zeigen, dass flüchtige Schmelzwassertümpel ein möglicher Rückzugsort für diese Lebensformen gewesen sein könnten.
Die Erkenntnis, dass solche Gemeinschaften auch in heute extremen, aber strukturell vergleichbaren Habitaten gedeihen, legt nahe, dass sie auch frühere globale Vereisungen überstehen konnten. Mit dieser Studie ist die Wissenschaft um eine plausible Theorie reicher, wie das komplexe Leben selbst die extremsten Kapitel der Erdgeschichte überdauert haben könnte.