«Piraterie» unter Gletschern: In der Antarktis «stiehlt» ein Gletscher dem anderen das Eis

von Julia Hager
05/15/2025

Ein Gletscher in der Westantarktis fließt deutlich schneller als sein Nachbar und «stiehlt» dessen Eis – eine wichtige Entdeckung zum besseren Verständnis des Beitrags der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg.

Die Crosson- und Dotson-Eisschelfe in der Amundsensee gehören zu den sich am schnellsten verändernden Eisschelfen in der Westantarktis. Sie verlieren seit Jahrzehnten erheblich an Eismasse und ihre Grundlinie zieht sich zurück. Beide Eisschelfe werden gespeist von den Gletschern in der Region Pope, Smith und Kohler (PSK).  Bild: enthält modifizierte Copernicus-Sentinel-Daten (2022), verarbeitet von der ESA

Hochauflösende Satellitenbilder der Pope, Smith und Kohler-Gletscher-Region (PSK), die in unmittelbarer Nähe des «Weltuntergangsgletschers» Thwaites liegt, enthüllten ein überraschendes Phänomen: Der östliche Strom des Kohler-Gletschers zapft seinem Nachbarn, dem westlichen Kohler-Gletscherstrom, Eis ab. Das Forschungsteam der University of Leeds spricht von «Eis-Piraterie». 

Als eigentliche Sensation heben die Forschenden jedoch den kurzen Zeitraum hervor, in dem sie diesen Vorgang beobachtet haben. Was bislang als langsamer Prozess über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende angenommen wurde, dokumentierten die Forschenden nun innerhalb von nur 17 Jahren. Der Kohler-Ostgletscher gewann dadurch in dieser Zeit deutlich an Geschwindigkeit, während sich der westliche Kohler-Gletscher verlangsamte.

Die Studie unter der Leitung der University of Leeds, am 8. Mai in The Cryosphere veröffentlicht, basiert auf Daten des Copernicus Sentinel-1-Satelliten und langjähriger Messreihen zur Eisbewegung. Sie zielte darauf ab, die Veränderung der Fließgeschwindigkeit und -richtung von acht Gletscherströmen in der PSK-Region zu untersuchen – insbesondere im Hinblick auf ihren Beitrag zu den Crosson- und Dotson-Eisschelfen.

Die beiden Eisschelfe Crosson und Dotson liegen in unmittelbarer Nachbarschaft westlich (auf der Karte unterhalb) des «Weltuntergangsgletschers» Thwaites. Karte: ESA

Für den Zeitraum zwischen 2005 – 2022 analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie regionale Beschleunigung und Ausdünnung des Eises den Eistransport in diese Eisschelfe beeinflussen. Auch die Position der Kalbungsfronten wurde über 15 Jahre (von 2005 – 2020) hinweg verfolgt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Dynamik einzelner Gletscherströme auch benachbarte Systeme destabilisieren kann.

Ihre Analyse zeigt, dass sich sieben der acht untersuchten Gletscherströme der Region in diesen 17,5 Jahren an der Grundlinie – dem Übergang vom fest aufliegenden Gletscher zum schwimmenden Schelfeis – erheblich beschleunigt haben, im Durchschnitt um 51 Prozent. Ähnliche Entwicklungen werden auch bei anderen antarktischen Gletschern als Folge des Klimawandels beobachtet. Zieht sich die Grundlinie zurück, kann dies zur Destabilisierung des Gletschers führen und den Eisfluss in Richtung Ozean weiter beschleunigen. 

Die Fließrichtung und durchschnittliche Geschwindigkeit der acht untersuchten Gletscher, die in die Crosson- und Dotson-Eisschelfe fließen, zwischen 2005 und 2022.   Der Kohler-Ostgletscher zieht in einem bisher nie beobachteten Tempo Eis vom Kohler-Westgletscher ab. Grafik: ESA (Datenquelle: Selley et al., 2025, University of Leeds)

Im Jahr 2022 erreichten sechs der Eisströme sogar durchschnittliche Fließgeschwindigkeiten von mehr als 700 Metern pro Jahr. Bei den direkt benachbarten Gletschern Kohler-Ost und Smith-West beobachtete das Forschungsteam die höchste Beschleunigung über die 17,5 Jahre: Beide flossen im Jahr 2022 rund 560 Meter pro Jahr schneller als noch 2005. 

Überraschend ist allerdings, dass sich der Eisstrom des Kohler-Westgletschers im selben Zeitraum um zehn Prozent verlangsamte – vermutlich ausgelöst durch den Eisverlust an seinen Nachbarn Kohler-Ost. 

«Wir glauben, dass die beobachtete Verlangsamung auf dem Kohler-Westgletscher auf die Umlenkung des Eisstroms zu seinem Nachbarn – dem Kohler-Ostgletscher – zurückzuführen ist. Dies ist eine Folge der starken Veränderung der Oberflächenneigung des Kohler-Westgletschers, die wahrscheinlich durch die sehr unterschiedlichen Schwundraten auf den benachbarten Gletschern verursacht wird», erklärt Dr. Heather Selley, Forscherin an der School of Earth and Environment der University of Leeds und Hauptautorin der Studie, in einer Pressemitteilung der Universität.

Die Forschenden stellten zudem fest, dass die veränderte Fließrichtung des Eises und die damit verbundene «Piraterie» vom Kohler-Westgletscher die Menge an Eis, die in die Crosson- und Dotson-Eisschelfe strömt, in bislang nicht beobachtetem Ausmaß verändert hat. Laut Anna Hogg, Professorin für Erdbeobachtung an der School of Earth and Environment der University of Leeds und Co-Autorin der Studie, spielt dies eine bedeutende Rolle bei der Erhaltung von Dotson und dem schnelleren Zerfall von Crosson.

Die Fließgeschwindigkeit des Eises – und wie schnell es letztlich im Ozean schmilzt – ist entscheidend für seinen Einfluss auf den Meeresspiegelanstieg.

«Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Umlenkung des Eisstroms ein wichtiger neuer Prozess in der heutigen Eisschilddynamik ist, der für das Verständnis der heutigen strukturellen Veränderungen in Gletschern und der zukünftigen Entwicklung dieser Systeme erforderlich ist», so Prof. Hogg in einer Pressemitteilung der ESA. 

Die neuen Beobachtungen zeigen Wechselwirkungen zwischen schwimmenden Eisschelfen und dem aufliegenden Eisschild, die bisher kaum bekannt waren – und unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung des globalen Meeresspiegels im 21. Jahrhundert haben könnten.

Link zur Studie: Selley, H. L., Hogg, A. E., Davison, B. J., Dutrieux, P., and Slater, T.: Speed-up, slowdown, and redirection of ice flow on neighbouring ice streams in the Pope, Smith, and Kohler region of West Antarctica, The Cryosphere, 19, 1725–1738, https://doi.org/10.5194/tc-19-1725-2025, 2025