Verlust polarer Gletscher nach 1,5-Grad-Overshoot kaum rückgängig zu machen

von Julia Hager
05/22/2025

Selbst wenn es der Menschheit gelingt, den globalen Temperaturanstieg nach einem vorübergehenden Überschreiten des Pariser Klimaziels zu bremsen und langfristig auf unter 1,5°C zu senken, werden die Gletscher der Welt noch über Jahrhunderte – vielleicht sogar Jahrtausende – hinweg weiter schrumpfen.

Der Fjortende Julibreen auf Svalbard. Foto: Julia Hager

Noch klammert sich die Menschheit an die Hoffnung, die Auswirkungen und Schäden der globalen Erwärmung eines Tages rückgängig machen zu können. Doch neue Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Hoffnung trügt.

Ein internationales Forschungsteam, geleitet von der University of Bristol und der Universität Innsbruck, berichtet in Nature Climate Change (veröffentlicht am 19. Mai), dass Gebirgsgletscher weltweit selbst dann über Jahrhunderte hinweg weiter abschmelzen würden, wenn die globale Temperatur nach einem Überschreiten der 1,5°C-Grenze wieder unter diesen Wert fällt. 

In solchen sogenannten «Overshoot»-Szenarien verlieren die Gletscher deutlich mehr Masse als in einer Welt, in der die Erwärmung die Schwelle des Pariser Abkommens nie überschreitet.

«Wir wollten herausfinden, ob sich die Gletscher erholen können, wenn der Planet wieder abkühlt. Das ist eine Frage, die sich viele Menschen stellen – werden die Gletscher zu unseren Lebzeiten oder zu denen unserer Kinder wieder wachsen? Unsere Ergebnisse zeigen, dass dies leider nicht der Fall ist», sagt Dr. Fabien Maussion, außerordentlicher Professor für Polar Environmental Change an der University of Bristol und Zweitautor der Studie, in einer Pressemitteilung der Universität.

«Die derzeitige Klimapolitik bringt die Erde auf einen Pfad nahe an 3°C. Es ist klar, dass eine solche Welt für die Gletscher viel schlimmer ist als eine, in der die 1,5°C-Grenze eingehalten wird.»

Dr. Fabien Maussion, University of Bristol

Langzeitprojektion bis ins Jahr 2500

Um die langfristigen Folgen eines temporären Überschreitens der 1,5°C-Grenze zu untersuchen, simulierte das Forschungsteam die Entwicklung der Gebirgsgletscher weltweit erstmals bis zum Jahr 2500, mit Ausnahme der großen Eisschilde der Arktis und Antarktis.

Grundlage war ein sogenanntes Overshoot-Szenario, in dem die globale Durchschnittstemperatur zunächst bis 2150 um bis zu 3 °C über das vorindustrielle Niveau steigt, bevor sie bis 2300 allmählich wieder sinkt und sich bei +1,5 °C stabilisiert.

Die Ergebnisse zeigen, dass bis zum Jahr 2200 zusätzlich 16 Prozent der Eismasse verloren gehen würden, bis 2500 weitere 11 Prozent – und das zusätzlich zu den rund 35 Prozent, die bereits jetzt selbst bei Einhaltung des 1,5°C-Ziels als sicher verloren gelten. Das freigesetzte Schmelzwasser gelangt letztlich in die Ozeane und verstärkt den globalen Meeresspiegelanstieg.

Die Studie erschien nur einen Tag vor einer weiteren Veröffentlichung, in der Wissenschaftler*innen vor dem umumkehrbaren Rückzug der Eisschilde in Grönland und der Antarktis warnen, sobald die 1,5°C-Grenze überschritten ist, wie polarjournal.net gestern berichtete.

Nachdem im vergangenen Jahr erstmals die 1,5°C-Marke überschritten wurde, ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die im Pariser Klimaabkommen festgesetzten Grenzwerte nicht eingehalten werden können.

Ein Gletscher in Grönland. Foto: Michael Wenger

Polare Gletscher besonders betroffen

Nicht alle Gletscher reagieren gleich auf den Klimawandel. Insbesondere die Gletscher in hohen Breiten wie auf Svalbard, in Alaska, der Russischen Arktis, an den Rändern Grönlands sowie auf subantarktischen und antarktischen Inseln, die zusammen rund zwei Drittel der weltweiten Gletschermasse ausmachen, zeigen eine langsame Reaktion auf Temperaturveränderungen, da sie vergleichsweise flach sind. 

Selbst wenn sich das Klima in den kommenden Jahrhunderten wieder abkühlt, setzt sich der Eisverlust dort bis mindestens 2500 fort, eine Regeneration bleibt in diesen Regionen aus.

«Unsere Modelle zeigen, dass es viele Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dauern würde, bis sich die großen polaren Gebirgsgletscher von einem 3 °C-Overshoot erholen. Für kleinere Gletscher wie in den Alpen, dem Himalaya oder den Tropischen Anden ist eine Erholung für die nächsten Generationen nicht zu erwarten, ist aber bis zum Jahr 2500 möglich», sagt Dr. Lilian Schuster, Forscherin an der Universität Innsbruck und Erstautorin der Studie.

In anderen Regionen wie in Island oder der Kanadischen Arktis zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den Szenarien – entweder weil dort nur noch wenig Eis übrig ist oder weil sich die regionalen Klimabedingungen unter Overshoot und Stabilisierung kaum unterscheiden.

Gletscher auf Ellesmere Island in der Kanadischen Arktis. Foto: Julia Hager

Auswirkungen auf die Wasserversorgung

Besonders dramatisch könnte der Gletscherrückgang in Regionen werden, wo Schmelzwasser lebenswichtig ist. Laut Dr. Schuster könnte eine spätere Abkühlung des Weltklimas in manchen Regionen paradoxe Folgen haben: Wenn Gletscher wieder wachsen, speichern sie Wasser wieder als Eis und geben entsprechend weniger Schmelzwasser ab. Für Flusseinzugsgebiete, die stark vom Schmelzwasser der Gletscher abhängig sind, könnte dies langfristig zu Wasserknappheit führen.

Diese Entwicklung birgt Konfliktpotenzial: Während globales Handeln auf die Stabilisierung der Temperatur und die Reduktion von Emissionen abzielt, könnten in Zukunft lokale Interessen an einer verlässlichen Wasserversorgung im Konflikt mit diesen Klimazielen stehen.

«Die Welt nach einer Überschreitung wird anders aussehen als die Welt vor der Überschreitung.»

Die Autor*innen betonen, dass spätere Emissionsminderungen und die Entnahme und Speicherung von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage) nicht ausreichen werden, um die beschriebenen Prozesse umzukehren.

«Die Überschreitung von 1,5°C, auch wenn sie nur vorübergehend ist, führt zu einem Gletscherschwund über Jahrhunderte. Unsere Studie zeigt, dass ein Großteil dieser Schäden nicht einfach rückgängig gemacht werden kann – selbst wenn die Temperaturen später wieder auf ein sichereres Niveau zurückkehren. Je länger wir die Senkung der Emissionen hinauszögern, desto mehr belasten wir künftige Generationen mit unumkehrbaren Veränderungen», so Dr. Maussion.

Link zur Studie: Schuster, L., Maussion, F., Rounce, D.R. et al. Irreversible glacier change and trough water for centuries after overshooting 1.5 °C. Nat. Clim. Chang. (2025). https://doi.org/10.1038/s41558-025-02318-w