Der westantarktische Eisschild könnte bereits bei minimaler zusätzlicher Ozeanerwärmung seinen Kipppunkt erreichen – mit langfristigen Folgen für den globalen Meeresspiegel. Doch ein kleines Zeitfenster, um gegenzusteuern, bleibt noch.
Die Zukunft des Westantarktischen Eisschilds wird sich schon in den nächsten Jahren entscheiden. Zu diesem alarmierenden Ergebnis kommt eine neue Studie, die ein internationales Forschungsteam unter der Mitwirkung des deutschen Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) Ende Mai im Fachjournal Nature Communications Earth & Environment veröffentlichte.
Die Forschenden simulierten mithilfe von Computermodellen, wie der riesige Westantarktische Eisschild im Verlauf der Eiszeitzyklen der letzten 800.000 Jahre auf Erwärmungsphasen reagierte. Dabei stellten sie fest, dass eine Erwärmung der Tiefsee um lediglich 0,25 °C – wenn überhaupt – gegenüber dem heutigen Niveau ausreichen könnte, um einen über Jahrtausende hinweg irreversiblen Kollaps des westantarktischen Eisschilds auszulösen. Diese geringe Erwärmung des tiefen Ozeans könnte bereits in den nächsten Jahrzehnten eintreten.
Der Studie zufolge würde dieser Zusammenbruch langfristig rund vier Meter zum globalen Meeresspiegelanstieg beitragen – eine Veränderung mit drastischen Folgen für Millionen von Menschen in Küstenregionen weltweit. Zwar würde dieser Anstieg nicht innerhalb weniger Jahrzehnte, sondern über Jahrhunderte hinweg erfolgen, doch die Weichen dafür könnten schon bald gestellt werden.
Zwischen Stabilität und Kollaps
«In den letzten 800.000 Jahren hat der antarktische Eisschild zwei stabile Zustände gezeigt, zwischen denen er immer wieder hin- und herpendelte», erklärt der Hauptautor David Chandler von NORCE in einer Pressemitteilung des PIK. «Der eine Zustand, in dem es einen Eisschild in der Westantarktis gibt, ist der, in dem wir uns derzeit befinden. Der andere Zustand ist der, in dem der westantarktische Eisschild kollabiert ist.»
Der Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen wird vor allem durch die Temperatur des umgebenden Ozeans bestimmt. Die Temperatur der Atmosphäre spielt kaum eine Rolle, denn die Ränder des antarktischen Eisschilds schmelzen überwiegend aufgrund von relativ warmem Tiefenwasser, das aufsteigt und unter die Eisschelfe eindringt.
Nach dem Überschreiten des Kipppunktes, ist der Eisverlust selbstverstärkend, so Chandler. Der Kollaps des Eisschilds ist dann unvermeidlich und «praktisch unumkehrbar». Die Temperaturen müssten über mehrere Jahrtausende auf oder unter dem Niveau des vorindustriellen Zeitalters liegen, um dessen stabilen heutigen Zustand wieder zu erreichen.
Zudem kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass sich das antarktische Eisschild bereits in einem sogenannten «Overshoot»-Zustand befindet – oder ihm sehr nahe ist. Das bedeutet: Die Bedingungen, unter denen ein irreversibler Kollaps langfristig ausgelöst wird, könnten bereits erreicht sein, auch wenn sich die Folgen erst langsam und über Jahrhunderte hinweg zeigen.
Eine Frage der Verantwortung
«Wir haben sehr lange Simulationen über fast eine Million Jahre durchgeführt, einschließlich acht Zwischeneiszeiten, in denen das Klima ähnlich war wie heute», erklärt Dr. Torsten Albrecht, Forscher am PIK und Co-Autor der Studie, gegenüber polarjournal.net in einer Email.
Für verschiedene Klimabedingungen simulierten die Forschenden zusätzlich Gleichgewichtszustände, jeweils über Zeiträume von zehntausenden Jahren, und fanden dabei zwei verschiedene Stabilitätsregime. Sie stellten fest, dass es für eine kleine Änderung der Ozeantemperatur langfristiger unterschiedliche Zustände des antarktischen Eisschilds gibt. Das bedeute, dass große Veränderungen bereits jetzt oder in naher Zukunft ausgelöst werden könnten – auch wenn sie sich erst in Zeiträumen jenseits einer menschlichen Lebensspanne vollständig manifestieren.
«Diese Erkenntnis bringt also eine gewisse Verantwortung für die heutige Gesellschaft mit sich», betont Albrecht. Projektionen, wie schnell der Meeresspiegel konkret steigen könnte, waren allerdings nicht Teil der Studie.
Reduzierung der Emissionen würde noch helfen
Trotz der bedrohlich wirkenden Erkenntnisse sehen die Forschenden noch Handlungsspielraum. Eine rasche Reduzierung der menschengemachten Emissionen würde nicht nur die globale Erwärmung bremsen, sondern mittelfristig auch die Ozeantemperaturen stabilisieren.
«Die globale Erwärmung, die wir bisher erlebt haben, ist zu 100 % vom Menschen verursacht, wie der letzte IPCC-Bericht feststellt. Wir haben es also noch selbst in der Hand», sagt Albrecht.
Gelinge es, die globalen Durchschnittstemperaturen – auch im Südpolarmeer – auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren, bestehe noch eine realistische Chance, dass der Eisschild in seinem aktuellen Zustand verbleibt.
Dr. Albrecht unterstreicht, was Klimaforschende in Bezug auf andere Kipppunkte und den Klimawandel im Allgemeinen seit vielen Jahren betonen: «Mit jedem Jahrzehnt, das wir warten, mit jedem – derzeit zwei Zehntel – Grad Celsius zusätzlicher Erwärmung steigt das Kipprisiko. Wenn es uns gelingt, die globalen Durchschnittstemperaturen, auch im Südpolarmeer, auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren, haben wir eine Chance, dass der Eisschild in seinem jetzigen Zustand bleibt.»
«Es dauert Zehntausende von Jahren, bis ein Eisschild gewachsen ist, aber nur Jahrzehnte, um ihn durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe zu destabilisieren. Uns bleibt nur noch ein kleines Zeitfenster, um zu handeln.»
Julius Garbe, Doktorand am PIK und Co-Autor der Studie
Ein Blick in die Vergangenheit als Warnung
Die Stärke der Studie liegt in ihrem außergewöhnlich langen Zeitrahmen: Die Simulationen decken acht vollständige Eiszeitzyklen ab – ein Zeitraum, der länger ist als in vielen bisherigen Studien und erstmals genutzt wurde, um gezielt nach Kipppunkten im antarktischen Eisschildsystem zu suchen.
Der antarktische Eisschild habe in der Vergangenheit wiederholt auf vergleichsweise geringe Temperaturschwankungen reagiert, schreiben die Autor*innen. Das verleiht ihren Aussagen zusätzliches Gewicht: Denn es zeigt, dass die Risiken real und systemisch sind – und nicht nur hypothetische Szenarien.
Für die Wissenschaft bedeutet das: Es braucht dringend mehr hochauflösende Daten zu den Tiefseetemperaturen rund um die Antarktis, um die Stabilität des Eisschilds genauer zu überwachen. Für die Politik heißt es: Zeit zu handeln. Und zwar jetzt.