Eine neue Untersuchung unter Leitung der Doktorandin Megan Lenss vom norwegischen iC3 Polar Research Hub rückt bislang kaum beachtete Lebewesen ins Zentrum der Forschung: mikroskopisch kleine Algen, die unter dem antarktischen Meereis wachsen – und dabei für das gesamte Ökosystem der Region sowie den globalen Kohlenstoffkreislauf weit bedeutsamer sind, als es ihr unscheinbares Auftreten vermuten lässt. „Diese Algen sind sehr wichtig für den Krill und somit für das ganze Ökosystem des südlichen Polarmeeres“, sagt Lenss in einem Interview gegenüber PolarJournal.
Ein extrem produktiver Lebensraum
Im Fokus steht eine besondere Eisform, das sogenannte Plättcheneis.
Es entsteht, wenn eiskaltes Wasser unter antarktischen Schelfeisen Kristalle bildet, die aufsteigen, zusammenhaften und unter dem Meereis eine lockere, schwammartige Struktur ausbilden. „Diese Schicht entpuppt sich als ein außergewöhnlich aktiver Lebensraum“, sagt Lenss, und weiter: Bereits Ende der 70er- und in den 80er-Jahren hat man begonnen, dieses Eis und den Lebensraum darunter näher zu untersuchen.
Video: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
„In dieser Zone findet sich mehr Kohlenstoff als in jedem anderen bekannten Meereisbereich“, erklärt Lenss. Der Grund: In dem porösen Eiskörper sammeln sich große Mengen Meereisalgen, die in den salzigen Mikrokanälen ideale Wachstumsbedingungen vorfinden.
Kurze Erklärung: Wie entstehen Meereisalgen?
Meereisalgen entstehen, wenn sich im jungen, gefrierenden Meereis salzige Mikrokanäle bilden, in denen sich Nährstoffe und Licht sammeln. Diese Mikrostrukturen bieten den Algen ideale Bedingungen, um direkt im und unter dem Eis zu wachsen.
Auf einer Expedition im König-Haakon-VII.-Meer wurden Meereiskerne entnommen, die durchweg deutliche Schichten eingebauten Plättcheneises enthielten – ein bislang nicht dokumentierter Befund für diese Region.
Der letzte Rückzugsort
Die Proben wurden erst spät im Sommer gewonnen, als das meiste Meereis längst abgeschmolzen war. Umso erstaunlicher ist, dass die Forschenden noch immer hohe Chlorophyllkonzentrationen – also Hinweise auf aktive Algenblüten – nachweisen konnten.
Daraus ergibt sich eine neue Hypothese: Plättcheneis könnte den Algen am Ende der Schmelzsaison als letzte überlebensfähige Nische dienen. Denkbar sei, so Lenss, dass die Algen im Verlauf des Sommers zunehmend aus anderen Eisstrukturen verschwinden und sich schließlich fast ausschließlich in diesen speziellen Eisbereichen halten können. Mit zunehmender Erwärmung des Südlichen Ozeans könnte diese Funktion noch entscheidender werden. „Was genau die Auswirkungen sind, wissen wir aber noch nicht“, sagt Lenss.
Spurensuche in der Eisstruktur
Lenss wollte zudem klären, ob die Mikrostruktur des Eises selbst das Algenwachstum beeinflusst. Porengröße, Wasserdurchfluss und Nährstofftransport, so ihre Überlegung, könnten durch die Textur des Eises gesteuert werden. Da jedoch alle untersuchten Eisproben Plättcheneis enthielten, fehlte ein Vergleich zu anderen Strukturen – die Hypothese bleibt somit vorläufig unbestätigt. „In Kanada gibt es die Sea-ice Environmental Research Facility (SERF), wo man verschiedene Eistekturen herstellen kann und die somit sehr interessant für Forscher ist. Wer weiß, vielleicht wird es solche Einrichtungen auch bald in Norwegen geben.“
Kleine Algen, große Wirkung
Dass die winzigen Algen in der Antarktis-Region eine Schlüsselrolle spielen, ist unbestritten: Sie bilden die Grundlage des dortigen Nahrungsnetzes. Besonders der Antarktische Krill ist auf sie angewiesen – jenes Tier, das mit seiner enormen Gesamtbiomasse zu den wichtigsten Arten des Planeten zählt.
„Auch wenn man meint, es handle sich nur um kleine Algen, sind diese letztlich von entscheidender Bedeutung – sogar für größere Tiere wie den Pinguin. Das erkläre ich den Menschen oft, und meist wecke ich damit schnell ihr Interesse“, so Lenss.
Darüber hinaus ist der Südliche Ozean eine der zentralen Senken für Kohlendioxid weltweit. Rund 40 Prozent der ozeanischen CO₂-Aufnahme geht auf sein Konto. Ein Teil davon stammt aus biologischen Prozessen – und Meereisalgen tragen maßgeblich dazu bei, so Lenss.
Ein Forschungsfeld mit Zukunft
Lenss’ Arbeit, die während ihrer Masterphase begann, wird mittlerweile im Rahmen ihrer Promotion an der UiT und am Norwegischen Polarinstitut fortgeführt. Neben Laboranalysen beteiligt sie sich an Monitoringprojekten, die Grundlage für zukünftige Meeresschutzgebiete schaffen sollen
Noch gebe es viele offene Fragen, betont sie, doch die neuen Erkenntnisse liefern wichtige Puzzleteile für das Verständnis eines Ökosystems, das sich unter dem Druck des Klimawandels rasant verändert.
Megan Lenss ist Doktorandin am Norwegischen Polarinstitut und am Fachbereich für Arktische und Marine Biologie der UiT. Sie ist dem iC3 Polar Research Hub angeschlossen. Mehr über ihre Forschung erfährst du hier.
Die vollständige wissenschaftliche Arbeit „Incorporated platelet ice layers provide refuge for sea-ice algae in the Kong Håkon VII Hav“ wurde in Marine Ecology Progress Series veröffentlicht und ist hier verfügbar.
Megans Arbeit wird durch die iC3-assoziierten Projekte I-CRYME und WOBEC über Sebastian Moreau (NPI & iC3) und Karley Cambell (UiT, AMB) finanziert. Die Meereiskerne wurden während der Transect Cruise 2022 gesammelt. Eine Liste von über zwei Dutzend iC3-assoziierter Polarforschungsprojekte ist hier verfügbar.
Marcel Schütz, PolarJournal

