Versprechen auf Nördlichen Seeweg lässt Hoffnung in schrumpfenden russischen Kleinstädten weiterleben

von Ole Ellekrog
10/08/2024

Ein Hafen in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019, als Olga Povoroznyuk die abgelegene sibirische Stadt besuchte. Foto: Olga Povoroznyuk
Ein Hafen in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019, als Olga Povoroznyuk die abgelegene sibirische Stadt besuchte. Foto: Olga Povoroznyuk

Ein Wissenschaftsprojekt an der Universität Wien versucht sich an einer derzeit schwierigen Aufgabe: der anthropologischen Erforschung der russischen Arktis. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass die Träume von der Nordostpassage in der Region noch immer lebendig sind, auch wenn in der Realität weniger als nichts passiert ist.

Die Stadt Tiksi im nördlichen Teil der russischen Republik Sacha (Jakutien) beherbergt rund 4’000 Menschen. Sie wurde 1934 im Zuge der sowjetischen Erforschung der Arktis gegründet und erlebte ihre Blütezeit in den späten 1980er Jahren, als mehr als 11’000 Menschen dort lebten. Bis heute gibt es trotz des rapiden Bevölkerungsrückgangs keine Siedlung , die so weit im Norden (71°39′N) liegt und in der mehr Menschen leben.

Aber aufgrund des rauen Klimas und mangelnder Instandhaltung sind die Infrastruktur und die Gebäude abgenutzt und die Stadt selbst wirkt „halbverlassen“.

Daher sehnen sich die verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner natürlich nach den sowjetischen Tagen, als Schiffe aus der ganzen Welt Lebensmittel und Delikatessen anlieferten, die nirgendwo sonst im Land erhältlich waren; nach den Tagen, als die staatlichen Investitionen höher und die Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, besser waren.

Im letzten Jahrzehnt ist in Tiksi jedoch etwas Neues aufgetaucht: eine Hoffnung für die Zukunft.

Denn als Folge des Klimawandels ist die Verheißung des Nördlichen Seeweges aufgekommen, der Europa mit Asien durch den Arktischen Ozean verbindet. Die russische Regierung plant, diesen Seeweg zu nutzen, um ihre arktischen Gemeinden wiederzubeleben, und diese Pläne wurden in Tiksi gehört.

In den letzten zehn Jahren hat die russische Regierung den Nördlichen Seeweg hochgejubelt und versprochen, dass Tiksi wieder zu einem wichtigen Knotenpunkt werden könnte. Das hat Hoffnungen auf eine Wiederbelebung und eine Stabilisierung der dort noch lebenden Bevölkerung geweckt“, sagt Olga Povoroznyuk, Postdoktorandin an der Universität Wien, Forschungskoordinatorin und Leiterin der russischen Studienregion im Forschungsprojekt InfraNorth, welches sich mit der Rolle der Verkehrsinfrastrukturen für den Erhalt der Gemeinden in der Arktis beschäftigt.

Die Geschichte der Nordostpassage als Gemälde, fotografiert in Tiksi im Jahr 2019. Foto: Olga Povoroznyuk
Die Geschichte der Nordostpassage als Gemälde, fotografiert in Tiksi im Jahr 2019. Foto: Olga Povoroznyuk

Eine stärker urbanisierte Arktis

Das von Peter Schweitzer geleitete InfraNorth-Projekt ist in drei Studienregionen unterteilt: die nordamerikanische Arktis, die europäische Arktis und die russische Arktis. Im Rahmen der nordamerikanischen Studienregion des Projekts untersucht die Doktorandin Katrin Schmid die Rolle der Verkehrsinfrastruktur von Nunavut für die territoriale Ernährungsunabhängigkeit. Schmid sprach vor kurzem mit Polar Journal AG über die Auswirkungen der Amazon-Lieferungen in lebensmittelunsicheren Gemeinden in Nunavut.

In allen drei Teilen des Projekts geht es darum, die Auswirkungen von großen Infrastrukturprojekten auf das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften zu verstehen. Aber im russischen Teil des Projekts, den Povoroznyuk leitet, läuft es etwas anders als in den übrigen Teilen.

„Der russische Teil der Arktis ist viel stärker und früher industrialisiert und urbanisiert worden als der Rest der Arktis, was bis in die frühen Sowjetzeiten zurückreicht. Das verändert einige der Dynamiken dort“, erklärt sie.

Olga Povoroznyuk stammt selbst aus dem nördlichen Teil Sibiriens und begann ihre Karriere dort als Ethnologin und später als Anthropologin an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 2014 konzipierte sie zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Wien ein Forschungsprojekt über die Baikal-Amur-Verbindung, eine Eisenbahnlinie, die die Gemeinden in Ostsibirien veränderte.

Im Jahr 2015 führte sie dieses Projekt nach Wien. Seitdem arbeitet sie an Projekten, die mit der Arktis und der Infrastruktur zu tun haben.

„In Tiksi existiert immer noch eine nostalgische Erinnerung an die sowjetische Ära mit ihren Zeiten der sozioökonomischen Stabilität und der boomenden infrastrukturellen Entwicklung. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die infrastrukturellen Hinterlassenschaften und Pfadabhängigkeiten der Vergangenheit zu berücksichtigen, um die heutige Stadt und ihre Menschen besser zu verstehen“, sagt sie gegenüber Polar Journal AG.

Karte der InfraNorth-Studienregion in der russischen Arktis von Kirkenes im Westen bis Nome, welches so weit östlich liegt, dass es wieder im Westen liegt. Karte: Alexis Sancho-Reinoso
Karte der InfraNorth-Studienregion in der russischen Arktis von Kirkenes im Westen bis Nome, welches so weit östlich liegt, dass es wieder im Westen liegt. Karte: Alexis Sancho-Reinoso

Nach Februar 2022

Die obige Aussage und der größte Teil von Olga Povoroznyuks Wissen über die Gefühle der Einwohner von Tiksi basieren auf früheren langfristigen Feldarbeiten in verschiedenen Teilen der russischen Arktis und Sibiriens.

Im Jahr 2019 hatte sie „Vorarbeiten“ im nördlichen Teil von Sacha (Jakutien) geleistet und war bereit, das eigentliche InfraNorth-Projekt im Jahr 2020 zu beginnen. Leider wurde dies durch die Covid-19-Pandemie gestoppt und schließlich auf 2022 verschoben. Doch im Februar jenes Jahres wurde es infolge des russischen Einmarsches in der Ukraine für westliche Forscher praktisch unmöglich, in Russland zu arbeiten, und die weitere Feldarbeit musste bis auf Weiteres ausgesetzt werden.

Dies zwang Povoroznyuk und ihre Kollegen des InfraNorth-Projekts, kreativ zu sein. Ursprünglich hatten sie geplant, in acht verschiedenen Gemeinden entlang des Nördlichen Seewegs Feldforschung zu betreiben, was nun überarbeitet werden musste.

Am Ende entschied sich Povoroznyuk als einzelne Wissenschaftlerin, ihren Fokus auf die maritime Infrastruktur der Arktis, Hafenausbauprojekte und die Rolle des Nördlichen Seewegs beizubehalten. Doch nun bezog sie auch ihr neues Feldmaterial (wie Beobachtungen, Fokusgruppen und Interviews mit Anwohnern und Experten) aus Kirkenes, Norwegen, und Nome, Alaska, ein – zwei Küstengemeinden, die von den jüngsten geopolitischen Veränderungen betroffen sind. Sie kombiniert diese neuen ethnografischen Daten mit ihren früheren Forschungsergebnissen aus Tiksi, mit der Analyse von Medienberichten, politischen Dokumenten und Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die noch in der Lage sind, direkt in Russland zu arbeiten.

„Mein Interesse ist während der gesamten Laufzeit des InfraNorth-Projekts mehr oder weniger dasselbe geblieben, auch wenn das Thema neu formuliert und der geografische Umfang meiner Forschung auf nicht-russische Standorte ausgeweitet wurde“, erklärt sie.

Abwrackwerft in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019. Foto: Olga Povoroznyuk
Abwrackwerft in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019. Foto: Olga Povoroznyuk

Wichtig für soziale Beziehungen

In Tiksi machte Povoroznyuk eine wichtige Beobachtung, von der sie glaubt, dass sie in der gesamten russischen Arktis und sogar für Nome und Kirkenes zutrifft: Dass es eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen für die Zukunft und der Realität der Gegenwart gibt.

„Das Versprechen der Infrastruktur ist auch für die sozialen Beziehungen wichtig“, ist sie der Meinung.

„In Nome beispielsweise entstanden Proteste gegen den neuen Bau, während man in Kirkenes seine Zukunftspläne völlig neu überdenken muss, da sie bisher eng mit dem Transport von Öl und Gas aus Westsibirien verbunden waren“, fügt sie an.

„Und in Tiksi hofft jeder, dass der Nördliche Seeweg eine ähnliche Entwicklung wie zu Zeiten des sowjetischen Wohlstands bringen wird. Bislang ist dies jedoch nicht der Fall und wird es wahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht sein“, gibt sie zu Bedenken.

Ein Passagierschiffhafen in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019. Foto: ©Olga Povoroznyuk
Ein Passagierschiffhafen in Tiksi, fotografiert im Jahr 2019. Foto: ©Olga Povoroznyuk

Schwierig ohne Zugang zum Feld

In gewisser Weise ist die Entwicklung in Tiksi sogar rückwärts und nicht vorwärts gegangen, seit die Einwohner vor mehr als zehn Jahren zum ersten Mal von der Modernisierung des Nördlichen Seewegs gehört hatten.

Abgesehen von der Militärbasis, die immer noch gut versorgt ist, und dem dazugehörigen Personal ist die Bevölkerungszahl von Tiksi stetig zurückgegangen, erklärt Povoroznyuk. Die schrumpfende lokale Wirtschaft und die Streichung der staatlichen Subventionen für die Versorgung der abgelegenen Gemeinden im Norden haben dazu geführt, dass immer weniger Waren über den Nördlichen Seeweg geliefert werden.

Das wiederum bedeutet, dass die meisten Waren auf anderem Wege angeliefert werden müssen. In den Sommermonaten geschieht dies über Flusskähne, aber im Winter ermöglichen nur die unzuverlässigen ‚Winterstraßen‘ Tiksi (und den meisten anderen arktischen Gemeinden Russlands) eine stetige Versorgung mit Waren.

„In Tiksi sind die Modernisierungsversprechen vor allem auf dem Papier geblieben. Weder bei der Infrastruktur des Hafens noch bei der städtischen Infrastruktur gab es physische Veränderungen“, sagt Olga Povoroznyuk.

„Wir versuchen nun herauszufinden, wie sich dieser Mangel an infrastruktureller Entwicklung und die veränderte Realität nach Februar 2022 auf die Zukunftsvisionen der Menschen auswirken. Aber das ist schwierig, wenn man keinen Zugang zum Feld hat. Als Anthropologen müssen wir mit den Menschen sprechen und ihre Perspektiven verstehen“, meint Olga Povoroznyuk.

Ole Ellekrog, Polar Journal AG

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